Verteilnetze und die Energiewende: Status Quo

Es ist unumstritten, dass Verteilnetze eine zentrale Rolle in der Energiewende spielen. Der Ausbau erneuerbarer Energiequellen ist zwar entscheidend für die Erreichung der Klimaziele, aber es sind die Netze, die den Strom aus den vermehrt dezentralen Erzeugungsstellen an die Endabnehmer übertragen und verteilen. Und gerade in diesem Zusammenhang stehen wir global vor wachsenden Herausforderungen: alternde Stromnetzinfrastruktur, rasant steigende Nachfrage nach Integration von erneuerbaren Energien in die Netze, sowie Fachkräftemangel sind nur einige davon. Lasst uns nun die Themen, die im Brennpunkt der Probleme stehen, sowie die aktuellen Lösungsansätze genauer anschauen.

Der Integrationsbedarf für erneuerbare Energiesysteme steigt explosionsartig und lässt die Verteilnetze hinterherhängen

2022 war das Jahr, in dem eine beispiellose Wachstumsrate bei der Stromerzeugung aus Solarenergie zu verzeichnen war. Laut dem jüngsten Bericht von Solar Power Europe erreichten die Installationen von Solar-PV-Systemen in EU-Ländern einen neuen Rekord und stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 47 Prozent. Das bestätigen auch unsere eigenen Kunden und Partner: Viele europäische Verteilnetzbetreiber meldeten einen signifikanten Anstieg der Anfragen zum Netzanschluss für PV-Anlagen, teilweise doppelt so hoch wie im Jahr 2021, wobei der Großteil der Anfragen aus privaten Haushalten stammte.

Darüber hinaus muss das Tempo, mit dem erneuerbare Energien zwischen heute und 2050 ausgerollt werden, laut dem „Roadmap to Net Zero“ von der International European Agency (IEA) deutlich erhöht werden – für Solar alleine um das 20-fache!

Auch im Bereich Wärmepumpen wurde 2022 ein beispielloses Wachstum verzeichnet. Dem Bericht der European Heat Pump Association (ehpa) zufolge erreichte der europäische Wärmepumpenmarkt einen neuen Rekord von rund 3 Millionen verkauften Einheiten, fast 38 Prozent mehr als im bereits sehr gut gelaufenen Jahr 2021. Auch der Verkauf von Elektroautos – sowohl reine E- als auch Hybrid-Autos – brach ebenfalls einen neuen Rekord, wenn auch etwas bescheidener als bei Solar oder Wärmepumpen – 21 Prozent Wachstum wurden im Vergleich zum Vorjahr erzielt.

Zwar zeigen diese Zahlen, dass wir auf einem sehr guten Weg sind, fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energien zu ersetzen und dementsprechend die Energiewende voranzutreiben, doch gleichzeitig bedeuten sie, dass die europäische Stromnetzinfrastruktur zunehmend unter Druck gerät.

Neue Stromerzeuger und Lasten erfordern mehr Sichtbarkeit der Verteilnetze

Unsere Verteilnnetze benötigen bekanntlich mehr Investitionen, um die neuen, dezentralen Energieerzeugungsquellen aufnehmen zu können und somit zu einem Treiber der Energiewende zu werden. Um die gesamte Strommenge, die durch Solaranlagen erzeugt wird, in die Netze einzuspeisen und zu den Verbrauchern zu transportieren, benötigen wir neue Stromleitungen. Auch die wachsende Installationszahl von Wärmepumpen und E-Ladestationen setzt unsere Stromnetze zunehmend unter Stress und verlangt mehr Stabilisierungs- und Entlastungsmöglichkeiten für Netze.

Das Ausrollen erneuerbarer Energien erfolgt jedoch mit einer dermaßen verblüffenden Geschwindigkeit, dass der erforderliche Netzausbau nicht hinterherkommt. Unter anderem liegt dies auch daran, dass die Transparenz in unserem Energiesystem derzeit etwas mangelhaft ausfällt; insbesondere auf Niederspannungsebene. Dadurch ist es wesentlich schwieriger, vorherzusagen, an welchen Stellen Lastspitzen regelmäßig auftreten oder wo mehr Kapazität erforderlich ist.

In diesem Zusammenhang müssen wir neben reinen Netzausbau-Maßnahmen auch eine deutlich bessere Transparenz in den bestehenden Netzen schaffen, um eine effizientere Planung und Verteilung neuer Anschlusspunkte sicherzustellen. Durch einen umfassenden und ganzheitlichen Überblick über den aktuellen Stand der Verteilnetze und deren Kapazität sind wir in der Lage, wesentlich genauer zu bewerten, auf welche Weise der Anschluss neuer Stromquellen bestimmte Netzbereiche beeinflussen wird und wo eine Erweiterung der Netze am meisten vonnöten ist. In diesem Zusammenhang sind Digitalisierung und Automatisierung der mit Netzausbau verbundenen Prozesse das A und O bei solchen Entscheidungsfindungen.

Alternde Stromnetzinfrastruktur erfordert schnelle Modernisierungsmaßnahmen

Mit der Integration erneuerbarer Energiequellen in die bestehenden Verteilnetze ist auch die nächste große Herausforderung eng verknüpft: Die heutige Netzinfrastruktur erfordert eine umfangreiche Modernisierung, um die rasch steigende Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu bewältigen.

Unsere Stromnetze wurden ursprünglich für eine zentrale Stromerzeugung konzipiert, unter der Voraussetzung, dass die damals traditionellen Energiequellen wie Kohle, Erdgas, oder Kernenergie eine kontinuierliche Energieproduktion ermöglichten.

Erneuerbare Energien wie Wind und Solar sind dagegen dezentralisiert und ihre Energieproduktion variiert je nach Wetterbedingungen; sie ist daher weniger planbar. Das führt zu Problemen wie Spannungsschwankungen, ungleicher Stromverteilung und Netzinstabilität. Die aktuellen Lösungsansätze erfordern manchmal Maßnahmen, die in absolutem Widerspruch zu den Zielen der Energiewende stehen; zum Beispiel das temporäre Abschalten von Windenergieanlagen, wenn das Volumen an Windenergie so hoch ist, dass es zu Netzüberlastungen führen kann. In Deutschland wurden beispielsweise im Jahr 2021 aufgrund dieser Praxis 5,8 Milliarden Kilowattstunden Strom aus Windenergie praktisch verschwendet.

Solche Maßnahmen gelten jedoch derzeit als das kleinere Übel. Laut dem Bericht der IEA vom Dezember 2022 weisen viele Übertragungs- und Verteilungsnetze eine unzureichende Kapazität auf, um neue Solar- und Windanlagen aufzunehmen. In den Energy Industry Insights 2022 von DNV sagt Louise Rullaud, Leiterin des Teams für Verteilung und Marktunterstützung bei Eurelectric: „Wenn wir jetzt nicht modernisieren, wird bis 2030 fast die Hälfte der Niederspannungsleitungen in Europa über 40 Jahre alt sein – das ist für einige Leitungstypen das Ende ihrer technischen Lebensdauer.“ Diese beunruhigende Einschätzung unterstreicht die Dringlichkeit der Maßnahmen zur Netzmodernisierung.

Eine bessere Netztransparenz kann bereits jetzt dazu beitragen, die Widerstandsfähigkeit des Netzes zu verbessern

Es wäre jedoch zu einfach zu sagen, dass die einzige Lösung für dieses Problem darin besteht, mehr in die Modernisierung der aktuellen Netzinfrastruktur zu investieren – auch wenn das ganz gewiss ebenfalls erforderlich ist. Andere Maßnahmen können zumindest Abhilfe beim Status quo schaffen und uns dabei helfen, die Lücke zwischen der Ist- und der Soll-Situation mit minimalen Verlusten zu überbrücken.

So könnte eine bessere Übersicht über den aktuellen Lastzustand der Netze den Netzbetreibern beispielsweise dabei helfen, die anfälligsten Leitungsabschnitte zu identifizieren, um sich zunächst nur auf diese zu konzentrieren. Auch die Durchführung von Simulationen für Betriebsmittel wie Erdkabel und Trafos ermöglicht es, Modernisierungs-„Patches“ genau an den Stellen anzuwenden, an denen der Bedarf an erhöhter Kapazität am größten ist. Selbstverständlich ersetzen solche Alternativmaßnahmen die Notwendigkeit einer massiven Netzmodernisierung nicht; sie werden uns jedoch dabei helfen, eine bessere Widerstandsfähigkeit der Verteilnetze zu gewährleisten und unnötige Überlastungen zu vermeiden.

Mangel an Fachkräften gefährdet den optimalen Betrieb der Netze und die Netzausbaupläne

Nicht nur die Verteilnetze werden älter, sondern auch das Fachpersonal. In etwa fünf Jahren werden die sogenannten Babyboomer aus dem aktiven Arbeitsmarkt ausscheiden, was den bereits heute deutlich spürbaren Mangel an Fachkräften in allen Bereichen weiter verschärft. Mehrere aktuelle Berichte, darunter einer von der International Energy Agency (IEA), warnen, dass der Fachkräftemangel derzeit eine der Haupthindernisse für einen schnelleren Netzausbau und dementsprechend zur Energiewende darstellt.

So erwartet die Statistikbehörde Schwedens bis 2030 einen starken Mangel an Ingenieuren in den Bereichen Energie, Elektronik, Automatisierung und Informatik. Laut der Berliner Beratungsfirma LBD können die Verteilnetzbetreiber damit rechnen, dass sie ihre Personalressourcen in Bereichen Netzstabilität und Netzausbau in den kommenden Jahren kaum bis gar nicht erweitern können.

Es gibt jedoch auch einige Lichtblicke. Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, passen viele Unternehmen ihre Personalstrategie an, um auch Quereinsteiger aus anderen Branchen zu gewinnen, und arbeiten mit Hochschulen zusammen, um Top-Absolventen anzuziehen. Darüber hinaus steigen die Investitionen in das bestehende Fachpersonal durch zusätzliche Schulungen, um Fähigkeiten und Fachkenntnisse in den Bereichen Digitalisierung, Automatisierung und Datenanalyse zu erweitern. Und die gute Nachricht ist – die notwendigen digitalen Tools, die derartige Schulungen unterstützen können, sind bereits auf dem Markt verfügbar.

So werden ausgeklügelte Überwachungsmöglichkeiten selbst weniger erfahrenen Mitarbeitern dabei helfen, kritische Ereignisse schnell zu identifizieren und rechtzeitig darauf zu reagieren. Auf diese Weise kann der Mangel an langjähriger Erfahrung zumindest teilweise durch intelligente Tools ausgeglichen werden, die datengetriebene Einblicke in den realen Netzzustand bieten. Erhöhter Automatisierungs- und Digitalisierungsgrad werden auch dazu beitragen, dass der manuelle Input bei solchen Aufgaben, wie Bewertung der Netzkapazität für neue Anschlussanfragen, weitgehend wegfallen wird. Dadurch werden Personalressourcen für komplexere und strategisch wichtigere Aufgaben wie kurz- und langfristige Netzplanung freigesetzt, was eine effiziente Betriebsführung auch mit weniger Personal ermöglichen kann.

Neue Zeiten bringen neue Herausforderungen, aber auch neue Chancen für die Verteilnetze

Es wäre keineswegs übertrieben zu sagen, dass die Energiebranche noch nie dagewesene Zeiten durchlebt. Es ist eines der komplexesten physischen Systeme, die die Menschheit über Jahrzehnte entwickelt hat. Und jetzt muss es in kürzester Zeit eine umfassende Modernisierung und Neuentwicklung durchlaufen, um nicht nur eine stabile Stromversorgung zu gewährleisten, sondern auch sicherzustellen, dass wir die Energiewende vorantreiben und die Klimaziele erreichen.

Es ist auch unbestreitbar, dass dies eine äußerst komplexe und herausfordernde Aufgabe ist, die eine umfassende Koordination mehrerer Einheiten, eine Vielzahl von Fähigkeiten und natürlich erhebliche Investitionen erfordert.

Neue Zeiten bringen jedoch nicht nur neue Herausforderungen, sondern auch neue Chancen mit sich. Die Digitalisierung der Stromnetze und ein höherer Automatisierungsgrad stellen sicherlich keinen Königsweg für die Lösung aller Probleme rund um das Stromnetz dar. Mit Hilfe der richtigen Werkzeuge können wir jedoch eine ganzheitliche Betrachtung des Netzes und seiner Elemente schaffen, was eine höhere Transparenz und Sichtbarkeit, bessere Planungsfähigkeiten und effizienteres Management und Koordination ermöglicht.

Im zweiten Teil unserer Mini-Serie werden wir uns das Konzept der digitalen Zwillinge im Zusammenhang mit den sogenannten Smart Grids genauer ansehen. Obwohl der Energiesektor einer der wenigen ist, der sich mit dieser Technologie erst jetzt auseinandersetzt, ist das Versprechen der digitalen Zwillinge an die Verteilnetze enorm. Und so werden wir kurz auf die allgemeinen Konzepte des digitalen Zwillings, sowie auf die Voraussetzungen für einen guten digitalen Zwilling für Stromnetze eingehen. Außerdem schauen wir, wie genau digitale Zwillinge dazu beitragen können, zumindest einige der Hauptprobleme im Energiesektor zu bewältigen. Hier geht es zum Teil 2 >>> Digitaler Zwilling des Verteilnetzes sorgt für mehr Netzstabilität.

Dieses Projekt wird im Zuge des Renewable-Energy-Solutions-Programms der Exportinitiative Energie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert.

Deutsche Energie-Agentur (dena)

Die Deutsche Energie-Agentur (dena) ist ein Kompetenzzentrum für angewandte Energiewende und Klimaschutz. Die dena betrachtet die Herausforderungen einer klimaneutralen Gesellschaft und unterstützt die Bundesregierung beim Erreichen ihrer energie- und klimapolitischen Ziele. Seit ihrer Gründung im Jahr 2000 entwickelt die Agentur Lösungen, setzt diese in die Praxis um und bringt Partner aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und allen Teilen der Gesellschaft zusammen – national wie international. Die dena ist eine Projektgesellschaft und ein öffentliches Unternehmen im Bundeseigentum. Gesellschafter sind die Bundesrepublik Deutschland und die KfW Bankengruppe.
www.dena.de

Exportinitiative Energie

Mit dem Ziel, deutsche Technologien und Know-how weltweit zu positionieren, unterstützt die Exportinitiative Energie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) Anbieter von klimafreundlichen Energielösungen bei der Erschließung von Auslandsmärkten. Im Fokus stehen hierbei die Bereiche erneuerbare Energien, Energieeffizienz, intelligente Netze und Speicher sowie auch Technologien wie Power-to-Gas und Brennstoffzellen. Das Angebot richtet sich insbesondere an kleine und mittlere Unternehmen und unterstützt die Teilnehmenden durch Maßnahmen zur Marktvorbereitung sowie bei der Marktsondierung, -erschließung und -sicherung.
www.german-energy-solutions.de

Renewable-Energy-Solutions-Programm (RES-Programm)

Mit dem RES-Programm unterstützt die Exportinitiative Energie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) deutsche Unternehmen der Erneuerbare-Energien- sowie Energieeffizienz-Branche bei der Erschließung neuer Absatzmärkte. Im Rahmen des Programms werden Referenzanlagen in einem Zielmarkt errichtet und mit Unterstützung der Deutschen Energie Agentur (dena) öffentlichkeits- und werbewirksam vermarktet. Durch Informationsvermittlung sowie Schulungsaktivitäten wird die Nachhaltigkeit des Markteintritts gefördert und die Qualität klimafreundlicher Technologien aus Deutschland demonstriert.
www.german-energy-solutions.de/res-programm.html