Funktionen eines digitalen Zwillings im Überblick
- Echtzeitüberwachung: Darstellung des aktuellen Netzzustands auf Basis von Sensordaten und Systemmodellen
- Simulation und Prognose: Analyse zukünftiger Betriebszustände und Netzverhalten unter verschiedenen Szenarien
- Transparenz: Verbesserung der Nachvollziehbarkeit und Übersicht über Netzvorgänge
- Datenaggregation und -zusammenführung: Konsolidierung von Informationen aus verschiedenen Quellen für eine fundierte Entscheidungsfindung
- Bessere Abbildung der realen Gegebenheiten im Netz: Genauere Modellierung der Netzsituation zur Optimierung von Steuerungsmaßnahmen
Das Stromsystem ist eins der komplexesten physischen Systeme, die von der Menschheit je geschaffen wurden. Die Technologie des digitalen Zwillings bietet dabei ein großes Potential, dieses System zu transformieren, indem seine Komplexität verständlich erfasst und in erkenntnisbasierte Handlungsempfehlungen übersetzt wird.
Das Konzept des digitalen Zwillings wird oft als entscheidendes Element der sogenannten intelligenten Stromnetze (Smart Grids) angesehen, um eine dynamische Überwachung, Auswertung und deutlich bessere Entscheidungsfindung zu ermöglichen.
Dank digitaler Zwillinge kann man Prozesse wie Analyse der Netzstabilität und -engpässe, Netzplanung und Modellierung der Versorgungsaufgabe, die historisch meist offline und manuell durchgeführt wurden – und aufgrund dessen natürlich fehleranfällig waren – nun größtenteils oder sogar vollständig automatisieren.
Vorteile und Einsatzmöglichkeiten eines digitalen Zwillings
#1: Transparenz des Stromverteilungsnetzes erhöhen, um die Netzstabilität dauerhaft gewährleisten zu können
Die wachsende Anzahl an PV-Dachanlagen, Wärmepumpen und Ladestationen für Elektroautos macht unser Energiesystem dezentraler und vernetzter denn je. Das ganze System wird dadurch deutlich unübersichtlicher. Dadurch wird es zum Beispiel zunehmend schwieriger, Störungen bei z.B. Lastflussumkehr, fluktuierenden und bidirektionalen Lastflüssen oder Spannungsbanderhöhungen an Einspeisepunkten zu lokalisieren, um gezielt einzugreifen.
In diesem Kontext kann ein digitaler Zwilling der Verteilnetze eine entscheidende Rolle dabei spielen, mehr Sichtbarkeit über den aktuellen Netzzustand zu schaffen und die Stabilität des Netzes eng zu überwachen. Dadurch wird es den Verteilnetzbetreibern ermöglicht, ein solch komplexes System effektiv zu verwalten und einen reibungslosen Betrieb zu sichern.
Wenn beispielsweise genügend Überwachungsdaten in Echtzeit vorliegen – zum Beispiel von intelligenten Messsystemen in privaten Haushalten oder von Ortsnetztransformatoren –, können Netzbetreiber mithilfe eines digitalen Zwillings ihres Verteilnetzes einen umfassenden Überblick über den Netzstatus in einem bestimmten Bereich gewinnen. Auf diese Weise können sie frühzeitig eingreifen und Leistungsflüsse regulieren, um Überlastungen im Netz zu lindern oder sogar zu verhindern.
#2 Bessere Netzverfolgung gewährleisten, um bestehende Netze zu verstärken sowie Zielnetzplanung effektiver zu gestalten
Ferner kann ein digitaler Zwilling die Verteilnetzbetreiber bei der Planung von Netzverstärkungs- und Netzausbaumaßnahmen sowie der Wartung von Betriebsmitteln unterstützen. Durch die Kombination der aktuellen Netzdaten mit historischen Informationen und detaillierten digitalen Modellen können die Netzbetreiber den Zustand des Netzes und dessen Komponenten genau analysieren und proaktive Maßnahmen ergreifen.
Insbesondere bei der kurz- und langfristigen Netzplanung ist es unerlässlich, akkurate und vollständige Modelle der Netze zu haben. Dafür kombiniert der digitale Zwilling die physikalischen Modelle eines Verteilnetzes mit den relevanten Prozess- und Umgebungsdaten und bietet somit eine virtuelle Kopie des realen Systems. Wenn darüber hinaus mehrere Spannungsebenen im Spiel sind, ermöglicht der digitale Zwilling eine netzübergreifende Modellierung und dadurch eine wesentlich bessere Netzbewertung sowohl in der Niederspannung als auch in der Mittelspannung.
Dies ermöglicht es Netzbetreibern, unterschiedliche Maßnahmen wie potenzielle Netzverstärkungen oder Netzausbau zu simulieren – zum Beispiel das Upgrade eines Transformators –, verschiedene Szenarien und deren Potenziale zu bewerten und anschließend die Umsetzungsmöglichkeiten in einer risikofreien digitalen Umgebung genau zu analysieren.
Darüber hinaus können die Netzbetreiber die Maßnahmen zum Netzausbau effektiver priorisieren, wenn sie einen ganzheitlichen Überblick über sowohl aktuelle als auch geplante Standorte dezentraler Stromerzeuger und -verbraucher haben.
#3 Den Automatisierungsgrad erhöhen, um den Auswirkungen des Fachkräftemangels entgegenzuwirken
Oftmals bedarf es schneller Entscheidungen, um eine sichere und zuverlässige Stromversorgung zu gewährleisten; zum Beispiel, um im Notfall eine Netzüberlastung zu verhindern. In der Vergangenheit konnte man sich auf die erfahrenen Netzmeister verlassen, solche raschen und qualifizierten Entscheidungen zu treffen.
Die zunehmende Netzkomplexität, die zeitnah aus dem Berufsleben ausscheidende Boomer-Generation und die Notwendigkeit, das gesamte Energiesystem zu transformieren – all das schafft jedoch völlig neue Herausforderungen. So stehen der Fachkräftemangel und die alternde Belegschaft bei dem kürzlich veröffentlichten Power Grids Research Report von DNV unter den Top fünf größten Hindernissen für eine schnellere Energiewende.
In diesem Zusammenhang kann ein digitaler Zwilling für weniger erfahrene Fachkräfte die Rolle eines Beratungs- und Unterstützungstools übernehmen, wenn eine komplexe und zeitkritische Entscheidung gefragt ist. Selbstverständlich muss man in solchen Fällen besonders darauf achten, dass die Datensätze, die für sämtliche Berechnungen eingespeist werden, vollständig und korrekt sind.
Digitale Zwillinge reagieren dynamisch auf Veränderungen im physikalischen System und ermöglichen somit eine ereignisgesteuerte Automatisierung. Vorausgesetzt, dass es bestimmte Ereignisse in den Stromnetzen „abonniert“ hat, kann ein solches virtuelle Modell sich je nach Veränderungen in Echtzeit selbst aktualisieren und darauf entsprechend reagieren. So kann es zum Beispiel eine Störung im Netzwerk entweder komplett automatisch beseitigen oder dem Fachpersonal die erforderliche Unterstützung bei der Entscheidungsfindung bereitstellen.
Dennoch bleibt auch bei einer immer besseren Netzsimulation, aufgrund mehr und genauerer Netzdaten, stets das kritische Hinterfragen des Fachpersonals ein zentraler Erfolgsfaktor.
Der Nutzen digitaler Zwillinge im Überblick:
- Höhere Betriebseffizienz durch datenbasierte Entscheidungsfindung
- Reduzierte Wartungskosten durch frühzeitige Erkennung von Anomalien
- Verbesserte Netzstabilität durch vorausschauende Analysen
- Mehr Automatisierung und somit weniger Personalaufwand
Darum sind digitale Zwillinge für die Verteilnetze so wichtig
Unser Energiesystem wird immer komplexer, wo jede Komponente enorme Datenmengen liefert. Dezentrale Energieerzeugungs- und -verbrauchsanlagen, mit Sensoren ausgestattete Betriebsmittel und intelligente Messsysteme – all das trägt zur Komplexität bei und macht eine sichere Betriebsführung schwieriger. Darüber hinaus fällt die Transparenz insbesondere in der Niederspannung historisch gewachsen niedrig aus.
Genau aus diesem Grund ist es entscheidend, für eine genaue Darstellung der Netzzustände in den potenziell kritischen Netzbereichen zu sorgen. Denn nur so kann man Netzengpässe dauerhaft vermeiden, einen reibungslosen Betriebsablauf gewährleisten und wohlbedachte Entscheidungen darüber treffen, wo Verstärkung bzw. Ausbau des Netzes am dringlichsten erforderlich ist.
In diesem Zusammenhang bieten Daten aus intelligenten Zählern eine unschätzbare Grundlage für ein besseres Verständnis des Verbraucherverhaltens und der Stromflüsse entlang des Netzes. Allerdings müssen diese Daten in handlungsfähige Erkenntnisse übersetzt werden, um die Netzstabilität und Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Und genau darin liegt der größte Vorteil der digitalen Zwillinge. Diese Technologie ermöglicht es, verschiedene Datenquellen wie intelligente Messsysteme (IMSys), GIS, ERP, SCADA, ADMS usw. zu kombinieren, um eine einzige zuverlässige Informationsquelle für Netzbetreiber zu schaffen.
Ein rechenfähiges Netzmodell auf Basis des digitalen Zwillings ist außerdem in der Lage, auf verschiedene Ereignisse wie veränderte Wetterbedingungen oder Lasten dynamisch zu reagieren. So können die Transparenz und Sichtbarkeit des Energiesystems auf eine ganzheitliche Weise erhöht werden
Außerdem erleichtert es die Planung von Netzverstärkungs- und -Ausbaumaßnahmen, da ein digitaler Zwilling ein genaues und aktuelles Abbild der Situation im Netz liefert. Die Energiewende ist bereits in vollem Gange.
Die Versorgungsindustrie steht jedoch vor großen Herausforderungen bei der zügigen und kosteneffizienten Umsetzung. Die Technologie des digitalen Zwillings ermöglicht es, alle Komponenten des Energiesystems von den erneuerbaren Energie-Erzeugungssystemen bis hin zum Prosumer miteinander zu integrieren und die Verteilnetzbetreiber bei den vielfältigen Herausforderungen effizient zu unterstützen.